WortGeschichten

Sonntag, 20. März 2011

Das Samenkorn

Ich fand es auf einem Spaziergang im Wald. Da lag es auf dem Weg, als wollte es mir etwas sagen. Mit dem Vorhaben, es zu Hause einzupflanzen, zu hegen und dann zu sehen, ob daraus etwas wächst, las ich es auf. Während ich weiterwanderte und meine Gedanken so umherschweiften, fand ich langsam in meine eigene Mitte zurück.

Ein Samenkorn... welch schöne Allegorie für etwas, das aus etwas winzig Kleinem entsteht. Ursprung von allem Lebendigen - im weiteren Sinne auch der Ursprung von etwas Schöpferischem, und der Lebensgestaltung an sich. Alles beginnt im Kleinen, wird durch etwas Kleines ausgelöst.

Samenkorn

Doch um das Samenkorn wachsen zu sehen, braucht es Geduld. Es dauert nun einmal, bis daraus eine vollwertige Pflanze wird, die ihre volle grüne Pracht dem Tageslicht präsentiert.

Genauso ist es auch bei allen von Menschen geschaffenen Werken. Auch deshalb ist es gut, dass ich das echte Samenkorn mitgenommen habe: Um mich daran zu erinnern, dass alles seine Zeit braucht. Dass ich viel Geduld aufbringen muss und nichts - zumindest nicht die großen Dinge - von heute auf morgen geschaffen wird.

Mein Samenkorn hat erstmal seinen Platz in einem Blumentopf mit Erde auf einer ausreichend sonnigen Fensterbank gefunden. Es wird regelmäßig gegossen werden, und wenn es wächst, wird es jeweils die passende Umgebung dafür bekommen, sprich bei Bedarf auch umgetopft werden und schließlich vielleicht auch wieder nach draußen kommen.

Freitag, 9. Februar 2007

Bitte sprechen Sie nach dem Pfeifton

Ich hasse Anrufbeantworter!
Nie habe ich mich mit dieser Art von Maschinen anfreunden können.
Okay, es ist überhaupt ziemlich schwer, sich mit einem Apparat anzufreunden, und ehrlich gesagt kann ich es mir auch nicht vorstellen. Man arrangiert sich mit ihnen, sie sind einem nützlich, entweder man kommt gut mit ihnen zurecht oder mag sie gar nicht... aber wie sollte man Beziehungen zu Dingen aufbauen? Man schließt Freundschaften mit Lebewesen, mit Menschen, mit seinen Haustieren, manche sogar mit ihren Pflanzen, kurz: mit allem, was in irgendeiner Form lebt. Aber nicht mit den Dingen.

Doch wenn es darum geht, eine Nachricht oder was auch immer auf irgendein Band aufzusprechen, hört bei mir der Spaß auf.
Das liegt schlicht und einfach daran, dass ich nun mal nicht gerne mit Maschinen "rede". Menschen können mir antworten, auf mich eingehen, einen Dialog mit mir führen, in dem es ein ständiges Geben und Nehmen ist, wo man sich wechselseitig ergänzt und gegebenenfalls seine eigenen Worte kontrollieren, verbessern und berichtigen kann.
Beim Zulabern einer Maschine geht das nicht. Es kommt kein Feedback, so dass man unter Umständen bald anfängt, sich selbst wie so eine leblose Maschine zu fühlen, die wie automatisch - blablabla - Worte von sich gibt, zwar wohl wissend, dass sie aufgezeichnet nicht verloren gehen, so lange bis sie ihren zweck erfüllt haben und der Empfänger die Löschtaste gedrückt hat.

Deshalb sind mir Anrufbeantworter ein Greuel.
Nicht, weil es sie überhaupt gibt. Und auch nicht, weil ihr Einsatz signalisiert, dass der Angerufene gerade nicht zu Hause, nicht zu sprechen ist oder keine Zeit hat (aufgeschoben ist nicht aufgehoben).
Es ist ganz einfach so, dass bei mir eine Art Blackout stattfindet, sobald ich statt einem persönlichen wie freundlichen "Hallo?" eine typische Standardansage höre, die in der Regel etwa wie folgt beginnt: "Hier ist der automatische Anrufbeantworter von... blablabla... Bitte hinterlassen sie nach dem Pfeifton eine Nachricht. (ggf. noch: Wir werden Sie dann so bald wie möglich zurückrufen.)"
Während ich dann auf besagtes Signal warte - das meist viel zu lange auf sich warten lässt, obwohl ein Teil von mir sich zu dem Zeitpukt wünscht, es würde niemals kommen - findet in meinem Gehirn eine Art final countdown statt. Ein Countdown, im Verlauf dessen sich zunehmend das Chaos ausbreitet, wo eben noch klare Ordnung herrschte und nicht nur der Inhalt, sondern auch die zu wählenden Worte ihren festen Platz hatten. Und als der ersehnte und zugleich verhasste Signalton dann erklingt, ist es, als hätten sich plötzlich irgendwelche Schaltkreise in meinem Gehirn so umgelegt, dass sie fast jeglichen Zugriff auf das, was ich jetzt brauche, gewissermaßen blockieren, als hätte ein innerer Tornado einen Großteil meiner inneren Gedächtniswelt oder zumindest ausgerechnet die Partie, die ich benötige, verwüstet.
Meist kriege ich die Worte doch noch irgendwie so zusammen, dass der Inhalt des Gesagten und sein Bedeutung beim abwesenden, potentiellen Gesprächspartner angekommen sein dürfte, sobald er die Nachricht abruft. Eventuelle Rückfragen, sowie Einzelheiten können dann sowieso meist in dem Antwort-Telefonat abgeklärt werden.
Für Details reicht die verfügbare Zeit pro Anrufbeantworternachricht ohnehin nicht aus...

Und hier liegt ein weiterer Aspekt, den ich an diesen Dingern (ich frage mich, warum man sie überhaupt Anrufbeantworter nennt - beantwortet ist mit ihnen doch im Grunde gar nichts!) so hasse:
Ich habe dabei stets das Gefühl, unter Druck zu stehen, mich beeilen zu müssen, weil ich Angst habe, es würde sonst nicht in den Aufzeichnungszeitraum passen bzw. meine Nachricht würde mitten in einem Satz unterbrochen. Dieser Zeitdruck ist für mich noch ein zusätzlicher Stressfaktor, der die Blockaden in meinem Gehirn sogar noch erhöhen kann, zumal ich sowieso kein Mensch bin, der unter Druck gesetzt perfekt funktionieren kann. Gerade auch bei kreativen Tätigkeiten wird diese Wirkung von Druck auf mich besonders deutlich...

"Piiiiiiiiep! Ihre Ansagezeit ist nun zu Ende. Vielen Dank für Ihre Nachricht. Auf Wiederhören."

Montag, 11. September 2006

Fünf Jahre danach

Die Freiheitsstatue auf der Roten Couch

Eine Figur aus grauem Beton, die mit einer Fackel in der Hand seit Jahrhunderten im Hafen von New York jeden begrüßt, der erstmalig – unter welchen Umständen auch immer – dieses Land betritt.
Ein gewohnter Anblick?
Wer genau hinschaut, bemerkt, dass die Fackel aufgehört hat zu brennen. Sie hat die Sterne auf der amerikanischen Flagge abgebrannt, bevor ein Kurzschluss sie erstickt hat.

Eine seltsam altmodisch gekleidete Gestalt wandelt ziellos durch die Straßen. Obwohl es windig ist, weht ihr steingraues Gewand nicht. Es ist erstarrt, und wirkt doch auf chaotische Weise durchsichtig. Es wirft keinen natürlichen Schatten, denn dieser verdeckt wider alle Naturgesetze die Sonne.
Die mysteriöse Gestalt geht aufrecht wie ein Mensch, ohne eindeutig identifizierbar zu sein. Nach außen täuschen detaillierte, wie gemeißelte Konturen Echtheit vor, doch ihre Augen sind undeutbar, spiegeln nur vielfältige Farben wider, die sie selbst verwirren und uneins machen. Auch das Geschlecht der Gestalt ist nicht eindeutig definierbar. Ihre harschen Züge und extrem beherrschten Bewegungen wirken, ebenso wie ihr Hang zum heroischen Patriotismus, männlich. Doch diese Augen voller Leidenschaft! Sie zeigen, dass dieses mystische Geschöpf im Grunde längst ahnt, was der versteinerte Verstand immer noch leugnet: Dass nur eine Veränderung in den Denkstrukturen zu Gunsten der in seinem Kostüm steckenden Personen seinen Fortbestand gewährleisten kann.
Deshalb muss er aufhören, die Multiplität seines Wesens zu verleugnen, bevor seine eigenen, unterdrückten Stützpfeiler ihn erschlagen werden.

Wie ein Blitz taucht plötzlich ein Türschild vor ihm auf. „Prof. Dr. John Freedom, Psychiater“, preisen die Buchstaben an, die vor seinen Augen verschwimmen.
Das Gefühl, dass diese Tür ihm die vielleicht letzte Chance zu einer Lösung eröffnet, kämpft händeringend mit einem anderen, ungewissen Gefühl: Der Angst.
Der Angst wovor? Zu scheitern? Das Gesicht zu verlieren?
Welches Gesicht? Gleicht er nicht einem dieser mehrköpfigen Fabelwesen? Geht es nicht vielmehr darum, all diese Köpfe miteinander in gleichberechtigten, kompromissfähigen Konsens zu bringen, ohne ihre Individualität zu verletzen? Auch wenn das Erreichen dieses Ziels schwieriger ist als all diese Persönlichkeiten EINEM einzigen Willen unterzuordnen: Es lohnt sich. Um der Freiheit willen. Der Freiheit, die er stets gepredigt und doch nie durchgesetzt hat. Nicht überall. Nicht für jeden.
Ihm wird bewusst, dass er bei dem Wort „Freiheit“ immer nur an sich selbst gedacht hat. Er hat sich andere untertan gemacht, um seinen eigenen Einfluss in der Welt und auf die Gesellschaft zu vergrößern. Er hat „Freiheit“ mit Macht verwechselt. Und viele mussten leiden, die folternden Gitter der Willkür erfahren...
Nun voller Schuldbewusstsein und Reue, beschließt er, sich seinem Spiegelbild zu stellen, noch von Furcht geschüttelt vor dem, was er sehen wird. Als nacktes Zwitterwesen mit Dornenkrone betritt er die psychiatrische Praxis wie einen Beichtstuhl.

Nachdem er im Wartezimmer viele qualvolle Minuten einander widerstrebender Empfindungen durchlebt hat, wird er hereingerufen.
„Guten Tag, Mr. ...“
„America.“
„Wie?“
„America. Mr. America ist mein Name.“
„Sehr erfreut, Mr. America.“ Er reicht ihm die Hand. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
Der wunde Punkt des Fremden ist berührt. Hilfe? Wozu brauche ich eigentlich Hilfe? Ich bin stark, ich muss mich allein aus dem selbst erschaffenen Schlamassel herausbugsieren!
„Ich bin Amerikaner.“ bringt er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Der Professor stutzt. „Äh, ja, interessant... Wollen Sie erst einmal Platz nehmen, damit wir fortfahren können?“
Der Zwitter tut, wie ihm geheißen.
„Sie sind also Amerikaner.“ beginnt der Herr Doktor die Sitzung. „Sie sprechen das mit einem Selbstbewusstsein aus, das schon fast einen verborgenen Minderwertigkeitskomplex andeutet. So, als würden sie jeden Zweifel ausräumen wollen...“
Der Patient errichtet sich einen felsenfesten Schutzwall und schweigt.
„Schon gut.“ seufzt der Seelenklempner. „Erlauben Sie mir, von vorne zu beginnen. Sie sagen, Sie sind Amerikaner. Was bedeutet das für Sie? Worin liegt Ihre Identifikation mit Ihrem Land?“
„Ich bin stolz darauf, Amerikaner zu sein und für die Freiheit meines Landes zu kämpfen.“ sprudelt Mr. America, nun voll in seinem Element, hervor. „Ich liebe das Land, seine Menschen, und all das Glück, das es mir bringt. Jeder Tag hier bringt eine weitere Überraschung mit sich, und man weiß nie, woran man ist. Das ist das, was ich an Amerika am meisten schätze, denn ich bin immer auf der Suche nach Abenteuern...“
„Und was erhoffen Sie, in Ihren Abenteuern zu finden?“
Mr. America zögert. Darüber hat er sich zuvor noch keine Gedanken gemacht. „Ich denke, meine ,Abenteuer´ verschaffen mir das Gefühl, die Grenzen des Alltags zu überwinden.“ antwortet er dann philosophisch. „Sie geben mir ein Gefühl, lebendig zu sein. Ich bin ein freies Wesen...“
Aufmerksam lauscht der Arzt den gebetsmühlenartig heruntergerasselten Hollywoodfilm-Weisheiten des Hilfesuchenden und nickt. „Okay. Aber gestatten Sie mir eine Frage: Was verstehen Sie unter Freiheit?“
„Ich habe die Freiheit, mein Schicksal zu wählen.“ erwidert dieser achselzuckend.
„Sie erwähnen Schicksal und Freiheit in einem Atemzug...“ bemerkt der Psychiater. „Aber ich will jetzt nicht an unangebrachter Stelle nuancieren. Gibt es noch etwas, das Freiheit für Sie persönlich bedeutet?“
Mr. America kommt ins Grübeln. „Hm... Freiheit... für mich... nun ja, ich habe die Freiheit, ich selbst zu sein...“
„Und wer sind Sie?“
„Ich bin Amerikaner.“
Der Seelenarzt rollt mit den Augen. „Ich habe nicht gefragt, was Sie sind, sondern wer. Wie würden Sie sich am ehesten beschreiben?“
„Ich... ähm... tja... ich bin kein Mensch, sondern ein Volk...“
Zunächst hebt der Psychiater verdutzt die Brauen, doch dann hat er sich wieder gefasst.
„Sie identifizieren sich also so sehr mit ihren Mitbürgern, dass Sie mit ihnen verschmolzen sind, ohne sich individuell hervorzuheben, richtig? Sind Sie sozial engagiert?“
Mr. America schüttelt den Kopf. „Ich wollte damit ausdrücken, dass... Eigentlich bin ich keine Person, sondern mehrere...“
„Ah, da liegt nun das Problem!“ Der Psychiater, der sich in seiner Rolle bestätigt fühlt, nimmt seinen Notizblock hervor und kritzelt eifrig etwas darauf:
Diagnose: Schizophrenie im fortgeschrittenen Stadium. Verdrängung der Tatsachen. Neigung zum Egozentrismus als wirkungslose Gegenmaßnahme. Zweifel führen zur Selbstflucht.

„Allmählich dringen wir zum Kern vor. Darf ich Sie bitten, sich bequem hinzulegen?“
Das lässt sich Mr. America nicht zweimal sagen.
„Okay. Jetzt schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Wie fühlen Sie sich?“
Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren!
„Ganz akzeptabel.“ sagt er nur.
Dr. Freedom betastet verschiedene Muskelpartien. „Sie sind ja total verkrampft! Sie müssen loslassen. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem, spüren sie bewusst Spannung und Entspannung nacheinander in jedem Ihrer Körperteile!“
Das ist es ja! Ich spüre NICHTS! Nicht einmal meinen Puls.
„So kommen Sie nach und nach zu sich selbst.“
Ach ja? Wie kommt es dann, dass ich mich nicht wahrnehme?
„Dann müssen Sie sich lösen...“
Und was ist, wenn das Problem genau DARIN liegt, dass ich bereits zu weit von mir entfernt bin? Soll ich etwa in OHNMACHT fallen?
„Ganz locker!“ fährt die beruhigende Stimme von irgendwoher fort. „Sie beginnen zu schweben, ihre Flügel tragen Sie über weites Land... Beschreiben sie mir die Landschaft, die sie sehen!“
Von unbeschreiblicher Entfernung erschallt seine eigene, verdorrt klingende Stimme: „Wüste, verbrannte Erde... Menschenkadaver... Trümmerhaufen... sengende Hitze... Spuren abgezogener Panzer... Chaos... überall Zerstörung und kein Ende...“
Kriegstrauma, schreibt der Professor nüchtern auf sein Notizblatt.
„Nun erheben Sie sich aus Ihren Trümmern und lassen sie hinter sich. Was erblicken Sie vor sich?“
Obwohl Mr. America versucht, die Bilder abzuwimmeln oder zumindest zu verfälschen, kreisen immer nur dieselben ihn in Mark und Bein verletzenden Schnappschüsse vor seinem inneren Auge: Zwei einstürzende Türme. Die brennende US-Flagge. Ein dunkler bärtiger Mann mit knochendürrem erhobenen Finger. Hass! Rache!
Erst als Dr. Freedom seine Frage wiederholt, klettert der Kranke mit letzter Kraft aus dem Loch empor, in dem er sich – wie schon so oft – verfangen hatte.
„Tja... Hm... ich sehe nichts...“
„Aber etwas müssen Sie doch sehen...“
„Nein! Alles, was von Bedeutung war, ist vernichtet. Es geht nur noch darum, das auszulöschen, was uns kaputt gemacht hat! Der TERROR muss ein für allemal ein Ende haben!!!“
„Welcher Terror?“
„Die Achse des Bösen! Sie müssen alle vom Erdboden getilgt werden!“
„Nun mal halblang! Sie verlieren den Überblick! Gegen wen richtet sich ihr Hass denn?“
„Gegen die Terroristen! Gegen die, die mich entmachtet haben! Gegen die Ungläubigen...“
„Moment! Sie können doch nicht eine ganze Religion verurteilen, bloß weil eine Gruppe deren Namen für ihre Zwecke missbraucht hat. Sie nehmen sich das alles zu sehr zu Herzen.“
„Ja, denn es ist MEIN Herz, das blutet!“ Mr. America gerät in Rage. „Verstehen Sie immer noch nicht: Ich BIN Amerika!“
Er will aufspringen, doch der Psychiater hält ihn zurück. „Jetzt halten Sie die Luft an! Immerhin weiß ich nun, dass wir heute nicht weiterkommen. Auf Wiedersehen, Mr. America!“

„Good morning, America!“ begrüßt Dr. Freedom seinen Patienten scherzhaft, in der Hoffnung, auf diese Weise durch die Mauer hindurchzudringen.
Als er merkt, wie sich dessen Miene verdüstert, weiß er sofort, dass er am falschen Ende angesetzt hat. Dieser eigenartige Mann macht es ihm auch nicht gerade leicht, seine Aufgabe zu erfüllen...
Nachdem er Mr. America zur Roten Couch geleitet und mit den üblichen Entspannungstechniken auf die folgende Sitzung vorbereitet hat, knüpft er mit ein paar einleitenden Worten dort an, wo letztes Mal geendet wurde.
„Bei Ihrem vorigen Besuch wurde deutlich, wie sehr Sie sich mit Ihrem Land identifizieren. So sehr, dass Sie es in Ihrer eigenen Person widergespiegelt sehen.“
„Ich reflektiere nicht meine Einwohner, die Einwohner reflektieren sich auf meiner Oberfläche!“ erwidert der Angesprochene.
Der Arzt räuspert sich. „Mein Eindruck ist eher, dass Sie sich die unterschiedlichen Menschentypen, die in Amerika inzwischen heimisch sind, sprichwörtlich einverleibt haben.“
„Ich habe mir die Menschen nicht einverleibt, sie wurden mir eingeflößt!“ erwidert Mr. America. „Sie haben sich mir aufgedrängt, und ich musste sie aufnehmen.“
Der Psychiater nickte. „Sie fühlen sich ausgeliefert. Doch ich kann Ihnen helfen, aus Ihren zwiespältigen Persönlichkeiten eine einzige zu formen. Sie müssen sich selbst mit all Ihren widerspenstigen Eigenschaften akzeptieren lernen...“
„Darum geht es nicht! Ich will lernen, sie alle unter einen Hut zu bringen, ohne dass einer von ihnen zerquetscht wird.“
„Ja. Und deshalb müssen Sie zuerst die Karten offen auf den Tisch legen, um dann eine Person nach der anderen als Teil Ihrer Selbst zu entlarven.“
„Aber das weiß ich doch längst! Herr Doktor, ich bin nicht hier, um Menschen zu töten, sondern um ihr Leben zufriedenstellend zu gewährleisten, um innere Konflikte beizulegen.“
„Allmählich kommen wir überein. Nun unternehmen wir eine kleine Phantasiereise. Okay?“
Mr. America nickte wie besessen.
„Nun gut. Schließen Sie die Augen und begegnen Sie sich selbst. Wem laufen Sie als erstes über den Weg?“
„Ich sehe ein Schiff, das gerade an Land angedockt hat. Menschen in steifen englischen Uniformen steigen von Bord und jagen mit Gewehren in der Hand über die wilde Prärie.
Ich sehe, wie ein Ureinwohner in seinem eigenen Blut ertrinkt, und die Überlebenden werden in Reservate gepfercht...
Nein, nein, das bin ich nicht! Das war ich nicht! Zu schreckliche Bilder!“
„Sie wollten doch nichts verdrängen! Denken Sie daran, dass jedes Detail Aufschluss über Ihre Identität geben kann. Sie wollen sich selbst kennen lernen, oder nicht?“
„Ja! Also gut. Aber ach, all dieses Leid, das die Menschen auf meinem Grund und Boden durchmachen mussten! Alles war gut – sogar die internen Stammeskämpfe folgten einer bestimmten Ordnung – bis die weißen Siedler kamen und in grauenhaften Razzien alles dem Erdboden gleichmachten, was sich außer ihnen bewegte...
Dann wurden sie sesshaft, bauten Städte und Dörfer und Eisenbahnen, die diese verbanden, taten so, als wäre nichts gewesen, und fühlten sich wie die Könige der Welt – Ein Reich, errichtet auf Leichenbergen...“
Dr. Freedom nickt beflissen. Er ist verblüfft, wie perfekt sich sein Patient auf seine Krankheit eine ganze Geschichte zusammenreimt. Bis ihm auffällt, dass es sich just um die amerikanische Geschichte von ihren Anfängen an handelt.
„Das waren jene, die freiwillig herkamen.“ fährt Mr. America fort. „Später wurden von der Elfenbeinküste her Bewohner des afrikanischen Kontinents als Sklaven hierher verschifft, um auf südländischen Plantagen zu schuften. Der mühsame Befreiungskampf wurde zwischendurch immer wieder durch Anschläge der weiß maskierten Christen des Klans zerschlagen.
Schließlich kamen in mehreren Einwanderungswellen aus unterschiedlichen Gründen Immigranten ins Land, als politische Flüchtlinge, legal oder illegal, aus persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen.
So besteht mein Verantwortungsbereich heutzutage aus den differenziertesten ethnischen Gruppen, und meine Bestimmung ist es, sie alle auf emanzipierte Art zu integrieren.“
„Sie sind politisch aktiv?“
„Die Politik ist ein Gremium, das normalerweise nach allgemein von allen, die unter meinem Dach leben, anerkannten Lösungen suchen sollte. Doch sieht es zur Zeit so aus, dass sie nur aus eigenen Interessen heraus handelt, ohne die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu beachten.“
„Interessant.“
„Interessant? Es ist ein Skandal! Politik verkommt zu einem einzigen Machtspiel zwischen zwei Parteien – die eine bestehend aus den Nachkommen der ersten weißen Siedler der Südstaaten, die andere immer wieder gehemmt durch erstere. Einer breiten Masse ist weder mit der einen noch mit der anderen Partei gedient. Amerika ist nicht schwarz oder weiß, sondern schwarz und weiß und bunt! Und eben diese Vielfalt ist Grund zum Stolz, nicht diese Selektierung, nicht dieses An-die-Wand-spielen...“
„Ich verstehe. Wenn wir aber jetzt doch zu Ihrem Anliegen zurückkehren könnten...“
„Wann begreifen Sie endlich: Das IST gerade der Punkt!“
Der Psychiater beginnt, sich zu fragen, wie lange er sich das Gerede noch anhören soll.
„Es gibt keine Sicherheit mehr!“ platzt Mr. America in einem neuen Anfall hervor. „Die Leute haben vergessen, wer ich bin. Ich bin nur noch ein umherschleichendes Phantom, das aus Frust die Welt durcheinander bringt, die Luft verpestet und anderen Staaten profitable Rohstoffe entzieht. Ich bin süchtig nach Konsum und Öl. Meine Werte verfallen – es ist nur eine Frage der Zeit...“
„Na, wer wird denn gleich...“ beschwichtigt der Professor. „Sie können immer noch aufstehen, um etwas zu ändern!“
„Ist es denn nicht schon zu spät? Und birgt Veränderung nicht neue Gefahren in sich?“
„Nun, Sie müssen jede Handlung vernünftig abwägen, bis alle Ecken ideal geschliffen sind. Doch das Wichtigste: Horchen Sie auf alle Stimmen! Mit Hilfe aller werden Sie Ihre Position wiederfinden. Es ist nicht leicht; aber Einsicht ist meistens der erste Schritt.“
„Danke, Herr Doktor! Sie haben mir das Leben gerettet! Jetzt muss ich nur noch die Menschen für die Wahrheit sensibilisieren und mobilisieren. Ich habe viel zu tun. Wiedersehen!“

Eilig schreitet Mr. America von dannen. Erhobenen Hauptes dem Sonnenuntergang entgegen. Noch hält er sich der Vorsicht halber im Schatten der Häuser verborgen.
Er registriert, wie ein Araber mit amerikanischem Pass durch zwei Polizisten zusammengeprügelt wird. Das ist eine Folge dessen, was geschehen ist. Auch rechtschaffene Moslems werden hier von jetzt an wie Al Kaida-Mitglieder behandelt. Man muss jedoch den Teufel von den Menschen trennen. Es macht keinen Sinn, Unschuldige zusammen mit den Schuldigen zu verteufeln. Dies ist ein Rechtsstaat, und Gerechtigkeit soll nicht nur groß geschrieben, sondern in durchgehenden Großbuchstaben allen Leuten, einschließlich der Leithammel, auf einem Plakat in Lebensgröße vor Augen gehalten werden!
Damit zum Beispiel dieser Moslem friedlich seinen Gebetsteppich über den Boden der Moschee breiten kann, ohne um seine Existenz fürchten zu müssen.
Schon morgen wird ein anderer Tag. Und übermorgen wird eine neue Ära anbrechen. Eine Ära des harmonischen Miteinanders, in der Kontraste nicht mehr als unüberwindbare Grenzen betrachtet werden.

© Karin Scherbart


Diesen Text habe ich bereits vor einigen Jahren geschrieben (zwar einige Zeit nach den tragischen Ereignissen des 11. September 2001, doch zu einer Zeit, wo ich noch nicht ahnen konnte, wie erstaunlich aktuell er am heutigen Tag noch sein würde).
Er ist bereits in einem Buch veröffentlicht worden, was mich natürlich auch sehr gefreut hat. Aus aktuellem Anlass (siehe Datum) setze ich ihn nun als (Ge-) Denkanstoß auch hier hinein.

Donnerstag, 20. Juli 2006

Das Schloss öffnet sich

Während sich das Wasser noch verschlafen um meine Festung kräuselte und das Geheimnis des Lebens, das sich in seinen Tiefen tummelte, weiterhin im Verborgenen lag, klopfte auf einmal ein Wort an das Tor meines Traumschlosses, verneigte sich höflich vor dem Wache schiebenden Bediensteten und bat um Einlass. Nach dem routinemäßigen prüfenden Blick wurde die Freundlichkeit in Person schließlich in mein Empfangszimmer geleitet, wo ich sie nach langem Gespräch ihrem Ehrenplatz in einem dicken Goldrahmen überm Kamin zuführte.
Ich war gerade das letzte Mal mit dem Staubwedel über jenes ovale Spiegelporträt gefahren, da wurde mir schon der nächste Besuch angekündigt: Die Freude, die älteste Tochter der Freundlichkeit, war eigentlich nur auf einen Sprung vorbeigekommen; doch dem Wirbelwind gefiel es so gut in diesem Palast, dass auch sie zum Dauergast wurde.
Sicher, wenn Tante Trübsal in ihrer langen schwarzen Robe oder Onkel Hass-an in signalroten Gewändern und gestachelten Stiefeln sich temporär als Untermieter einnisten würden, würde die Freude auch mal zum Fenster hinausfliegen. In der Zwischenzeit vergnügte sie sich damit, begeistert durch sämtliche Räume zu schweben, fröhlich wie ein Flummi umhertitschend in der Küche und streichelsanft gleich einer lauen Brise in den Gemächern. Dabei verbreitete sie überall ihren unverwechselbaren Duft, der in verschiedenen Spielarten von Süß ihre Farbe zwischen rosenblütenrot, schweinchenrosa, sonnengelb und pfefferminzgrün wechselte und dabei seine jeweils passende Sinfonie aus Geigen-, Bimmelglöckchen-, Balalaika- und Triangelklängen aufspielte.
So fasziniert hatte ich mich von diesem Sinnenzauber, der eigentlich ein Strudel phantastischer Magie war, in ihren Bann ziehen lassen, dass ich erst gar nicht bemerkte, dass seit geraumer Zeit ein weiteres Wort hartnäckig gegen das Schlosstor hämmerte.
"Jaaahaa, ist ja schon gut," rief ich dem Gehämmer nicht gerade beruhigend entgegen. "Ich gehe ja schon." In solchen offenbar dringenden Fällen empfing ich die Worte immer persönlich - auch wenn ich manche nur zu gern zurückgeschickt oder aber mit einem deftigen Tritt in den Wassergraben befördert hätte.
Bei diesem hier war es anders. Ihm konnte ich mich nicht so einfach entziehen. Es hatte den weiten Weg nur für mich gemacht, um seine Botschaft zu übermitteln:
"Hallo."
Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

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